Tagebucheintrag vom 17.01.2006
 
Zu Besuch bei Ruths Familie
 

Addis Abebba, den 17.01.2006

Ruth wohnt zusammen mit ihren Eltern und vier Geschwistern nicht weit von der German Church School entfernt. Es ist eine kleine Wohnsiedlung fuer ueber fuenfhundert Menschen. Vor sechs Jahren hatte ein Brand saemtliche Haeuser und alles was die Bewohner besassen zerstoert. Mit Hilfe verschiedener Hilfsorganisationen, unter anderem hatte sich die Gemeinde der Kreuzkirche in Addis beteiligt und mit eigener Arbeitskraft wurde das Viertel wieder aufgebaut. Fuer aethiopische Verhaeltnisse sieht es heute sehr gut aus. Es gibt oeffentliche Toiletten und eine Wasserstelle. Die Gassen sind mit Steinen gepflastert. Ein Riesenfortschritt vor allem in der Regenzeit.
Ruth hatte ihre Familie ueber unseren Besuch informiert. Alle sind zu Hause und die Dame des Hauses empfaengt uns herzlich und bittet ins Wohnzimmer. Das Wohnzimmer teilen sich drei Familien. Fuer jede Familie steht dann zusaetzlich ein kleiner Schlafraum zur Verfuegung. Auch das ist fuer unsere Verhaeltnisse sehr beengt, fuer Aethiopien eine durchaus komfortable Wohnsituation. Ruths Vater war Soldat im Krieg gegen das Regime von Haile Mengistu Mariam. Er stammt aus Tigray, der Nordprovinz Aethiopiens, und hat zusammen mit den eritraeischen Waffenbruedern der EPLF im eritraeischen Nakfa gekaempft. Vor acht Jahren hatte ich Gelegenheit die Schuetzengraeben von Nakfa im eritreischen Hochland zu besuchen. Hier konnten die zahlenmaessig und technisch ueberlegenen aethiopischen Truppen keinen militaerischen Sieg erringen. Es kam zum Stellungskrieg. Als schliesslich in Tigray eine zweite Front gegen die aethiopische Regierungsarmee zustande kam war das Schicksal Mengistus besiegelt. Er floh und lebt noch heute im Exil im Zimbabwe Robert Mugabes.
Im Krieg verwundet erhaelt er nun eine kleine Pension vom Staat, ca. 100 Birr monatlich, das sind in etwa 10 Euro. Ruths Mutter ist eine Oromo aus dem sueden Aethiopiens. Eheschliessungen zwischen verschiedenen Ethnien sind in Aethiopien aeusserst selten. Die beiden sind auch wirklich sehr unterschiedlich. Der eher zurueckhaltende Kaempfer aus den Bergen und die vor Energie spruehende, sehr temperamentvolle Mutter aus dem Rift Valley. Sie betreibt einen kleinen Laden und verkauft Gewuerze und seit neuestem auch selbstgemachtes Eis. Eine tolle Frau, die die Familie auch in den vergangenen schwierigen Jahren zusammengehalten hat. Schon nach den ersten fuenf Minuten herrscht eine lockere und freundschaftliche Atmosphaere. Die Scheu vor den beiden ferenjis ist wie weggeblasen und bei der traditionellen Kaffezeremonie geht es recht ausgelassen und lustig zu. Fuer diese Familie sieht die Zukunft gar nicht schlecht aus. Die Kinder gehen alle zur Schule, sprechen gut Englisch und helfen zu Hause tatkraeftig mit. Dreh und Angelpunkt der Familie ist jedoch die Mutter. In Afrika werden mindestens siebzig prozent der Arbeitsleistung von den Frauen erbracht. Manchmal hat man den Eindruck, dass das eher zu tief gegriffen ist. Im Falle von Ruths Familie ist es die Mutter die eine unbaendige Energie verbreitet.
Ruths Brueder gehen an die staatliche Schule. Vor zwei Monaten, waehrend der Ausschreitungen in Addis, wurde Johannes von der Federal Police (wie viele andere Schueler auch)  brutal zusammengeschlagen und fuer mehrere Tage inhaftiert. Die Eltern mussten ihren Sohn freikaufen, Johannes hat noch immer eine klaffende Wunde am Knie.
Es wird ein herzlicher Abschied und es war wirklich eine sehr schoene und freundschaftliche Begegnung.
Gemeinsam mit Jeremias und dem Sozialarbeiter der Schule besuchen wir im Anschluss noch zwei weitere Schuelerfamilien. Nur zwei Strassen weiter treffen wir Jeobs alleinerziehende Mutter. Jeob ist gestern Abend nicht nach Hause gekommen. Er geht in die achte Klasse der Schule und jetzt versuchen die Sozialarbeiter der Sache auf den Grund zu gehen. Die Familie wohnt auf ca. fuenf quadratmeter in einem schuppenaehnlichen Anbau einer Mauer. Die Mutter versucht alles um das Zuhause wohnlich zu gestalten, aber das ist bei diesen Verhaeltnissen wirklich ein Ding der Unmoeglichkeit. Auch sie betreibt einen kleinen Laden und verkauft Gemuese. Seit neuestem gibt es jedoch die Auflage dass die kleinen Staende ein festes Blechdach aufweisen muessen. Finanziell ist das fuer die Frau nicht zu stemmen. Zu diesen Problemen kommen jetzt noch die Schwierigkeiten mit dem heranwachsenden Jungen. Da ist viel Einfuehlungsvermoegen gefragt und die beiden Schulvertreter hoeren sehr aufmerksam und ruhig zu, um eine Loesung zu finden. Die Sozialarbeit die von der Schule geleistet wird, ist wirklich bemerkenswert. Jedes Problem braucht eine individuelle Loesung und daran wird auch gearbeitet.
Unser dritter Besuch an diesem Morgen gilt wiederum einer alleinerziehenden Mutter. Sie ist HIV positiv und koerperlich stark geschwaecht. Ihre kleine Huette wurde vor zwei Monaten mit Mitteln der Schule mit einem neuen Dach und einem neuen Fussboden versehen. Jetzt muss die dreikoepfige Familie nicht mehr im Matsch leben und mit der Verbesserung der Wohnungsverhaeltnisse kam auch ein Stueck Lebensmut zurueck. Wir sind willkommen und koennen uns zwanglos mit der Familie unterhalten. Jeremias spielt den Dolmetscher. Das Innere der Huette ist liebevoll mit Papiergirlanden geschmueckt, in der Ecke stehen geschmueckte Zweige vom gerade zurueckliegenden Weihnachtsfest. Seit kurzem bekommt sie durch den Staat einen Medikamentencocktail der den Ausbruch von Aids hinauszoegern soll. Das Programm ist solange kostenfrei wie der aethiopische Staat die Medikamente ebenfalls kostenfrei zur Verfuegung gestellt bekommt. Die aelteste Tochter geht in die neunte Klasse der staatlichen Schule. Bis zur achten Klasse war sie in der German Church School,  jeden Samstag bekommt sie Zusatzunterricht in der Deutschen Schule um das Leistungsniveau zu halten. Trotz der sehr schwierigen Situation ist auch diese Begegnung sehr herzlich und freundschaftlich. Es wird auch waehrend des Gespraechs viel gelacht und die Situation erscheint eben nicht hoffnungslos.
Zurueck in der Schule erwartet uns eine komplett andere Welt. "Das ist eine Insel" meint Pastor Krause zurecht. Fuer die Schueler ist die Schule ein Tor zu einer anderen Welt. Andereseits verlieren sie jedoch auch den Bezug zu ihrer Umwelt nicht aus den Augen. Manchmal ist das bestimmt ganz schoen schwierig, dennoch ist es eine gute Alternative zu einem Internatssystem.

 
 
 
 
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